Die Zeit rennt! – Förderkreis Arco Iris e.V.
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Carina berichtet aus Bolivien

Die Zeit rennt!

Meine Zeit hier in Bolivien neigt sich so langsam dem Ende zu und auch das letzte halbe Jahr ging nun auch noch wie im Fluge vorbei.
Leider habe ich es wegen fehlender Zeit nicht früher geschafft, euch einen weiteren Eintrag zu schreiben, weshalb ich euch nun ein kleines Update von den letzten 6 Monaten hier in La Paz geben werde.

Zunächst stand im Januar erst einmal das Zwischenseminar für alle deutschen Weltwärts-Freiwilligen in Südamerika an. Aufgeteilt in 2 Gruppen flogen jeweils 9-10 Arco Iris – Volontäre nach Santa Cruz, eine bolivianische Großstadt im wesentlich reicheren und wärmeren Tiefland. Zusammen mit weiteren in Bolivien bzw. Peru stationierten deutschen Weltwärts-Freiwilligen und zwei extra aus Deutschland eingeflogenen Seminarleitern verbrachten wir somit eine Woche im gegenseitigen Austausch und Reflektion unseres bisherigen Freiwilligendienstes. So schön das auch war, so habe ich mich doch wieder sehr gefreut nach ca. 1.5 Wochen wieder in mein altvertrautes, kaltes La Paz zurückzukommen.

Gleich am nächsten Tag ging die Arbeit auch wieder los. Da die Ferien nun vorbei waren, arbeiteten wir nun wieder in unseren „alten“ Projekten, was bedeutete, dass ich wieder mit meinen Ex-Beneficiari@s zu arbeiten began. Nach all den Wochen des Nicht-Sehens war es sehr schön wieder zurückzukommen und in all die liebgewonnen, vertrauten Gesichter zu schauen.

Da meine alte Chefin nach 4 Jahren in ein anderes Projekt versetzt wurde, startete ich mit einer neuen Chefin in das neue Jahr. (Auch wenn sie es wohl niemals lesen wird, an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an meine liebe Lola, eine wirklich tolle Chefin, Freundin und eine noch viel tollere Sozialarbeiterin!) Der neue Projektstart war etwas holpig. Da mein Team jetzt komplett neu war (Sozialarbeiterin und Psychologin) und ich somit diejenige, die die Projektrealität am längsten kannte, musste sich ein normaler Alltag erstmal einstellen und man sich gegenseitig aneinander gewöhnen. Soweit kam es allerdings nie richtig, denn nach bereits 3 Wochen wurde meine neue Chefin Cinthya in ein von der Fundacion neu eröffnetes Projekt versetzt. Das neue Projekt, welches sich „Peleferica“ nennt und in der gleichnamigen Zone liegt, ist ein großes Haus, welches einen Kindergarten, eine Hausaufgabenbetreuung, ein Jugendtreff, zwei Arztpraxen und einen kostengünstigen warmen Mittagstisch enthält.

Deshalb stand ich nach dem plötzlichen Wechsel dann erst einmal alleine da. Meine Mitarbeiterin (Psychologin Maria), die normalerweise hätte auch in das neue Projekt „Peleferica“ wechseln sollen, weigerte sich und somit blieben doch wenigstens noch wir zwei übrig (Kaum vorstellbar wie ich alleine hätte ein Projekt leiten sollen). An sich war das ganze ja auch nicht so schlimm, schließlich sollte sich – laut Aussagen aus der Verwaltungsebene – der unglückliche Zustand ja auch schon in der nächsten Woche ändern. Doch durch immer neue Aufschübe wurden aus Tagen Wochen und aus Wochen Monate und so standen wir am Ende mehr als 2 Monate ohne Chefin, vor allem aber ohne Sozialarbeiterin, da!

Nicht, dass wir die Menge an Arbeit nicht hätten bewältigen können, sondern viel mehr das Fehlen einer Sozialarbeiterin macht das Arbeiten in meinem Projekt fast unmöglich! Ein Projekt wie das meinige ist sehr stark auf die Arbeit und Kompetenzen einer Sozialarbeiterin ausgelegt und eine Psychologin und noch viel weniger eine Volontärin können diese in all ihren Aufgaben, Verantwortungsbereichen und vor allem in ihren Rechten(!) vertreten. Vorteilhaft in dieser unglücklichen Lage war aber wenigstens die kleine Mitarbeiteranzahl, die zumindestens einfache Absprachen ermöglichte und ein wohl noch größeres Chaos verhinderte. Auch Aussagen von Seiten der Chefetage waren wenig hilfreich und klärend und so fühlten wir uns doch öfters „in der Luft hängend“ und unangenehm konfrontiert mit dem Grenzbegriff „Verantwortung“.

Hinzu kommt auch noch ein unglücklicher Zwischenfall von seiten eines Beneficiarios . Im Rahmen eines Treffen unserer Population stahl uns ein ehemaliger Heimbewohner des Straßenjungenheims einen Projektor. Auch nach mehrmaligen Suchaktionen und der verbitterten Feststellung über die Falschheit aller persönlichen Angaben (Telefonnummer, Adresse, etc.) ist weder der Projektor noch der junge Herr bis heute aufgetaucht. Während in solchen Momenten in Deutschland die Versicherung greift, gibt es so etwas hier nicht und auch nach 2 Monaten ist die Schuld- und Finanzierungsfrage noch ungelöst. Doch neben dem Vertrauensmissbrauch hatte die Situation auch etwas Gutes: Wie ein Aufschrei wurde klar, dass so ganz ohne Chefin und Ordnung das Projekt „Ex-Beneficiari@s“ wohl doch nicht kann und so erhielten wir nach 2,5 Monaten „Dürreperiode“ endlich eine neue Sozialarbeiterin und Chefin: Bienvenida Grisel! Mit Grisel verstehe ich mich wirklich gut und man merkt, wie das Projekt langsam wieder aufgepäpelt wird. Auch mit den Beneficiarios läuft es weiterhin gut. Oft werde ich auch außerhalb der Arbeit zum Essen, Geburtstagen oder Ausflügen eingeladen. Die Gastfreundschaft der Bolivianer ist wirklich beeindruckend, obwohl sie doch selbst so wenig haben. Am 23. Juni ist außerdem mein Patenkind Lizeth Vanessa geboren worden. Was ein kleines Würmchen! Aber eine Größe von 45cm und ein Gewicht von 2kg bei der Geburt ist hier völlig normal, wo die Bolivianer bemessen an der Körpergröße für europäische Verhältnisse doch ohnehin eher klein sind (Mit meinen 1,60cm zähle ich hier eindeutig zu den großen Frauen!).

Die Eltern von Lizeth Vanessa sind beide ehemalige Straßenkinder. Jetzt leben sie schon mehr als 8 Jahre zusammen in einer stabilen Beziehung. Schon alleine das grenzt an ein kleines Wunder, wo doch Beziehungen bei der von uns betreuten Menschen in 90% der Fällen von Untreue und Instabilität geprägt sind. Die beiden wohnen in einer einfachen Behausung am Rand von El Alto. Gemeinsam leben sie mit ihren 4 Kindern, wobei die älteste Tochter unehelich ist. Ein weiteres fünftes Kind der Familie ist bereits gestorben. Der Vater verdient als ambulanter Süßigkeitenverkäufer auf den Straßen La Paz‘ den Unterhalt der Familie, was kein Leichtes ist. Früher kamen die beiden in einem Heim der Fundacion unter und heute arbeiten sie immer noch zusammen mit unserem Projekt „Ex-Beneficiari@s“. In der Vergangenheit gab es oft Probleme mit Alkohol- und Drogenmissbrauch von Seiten des Vaters, aber das hat sich stark zum Besseren verändert und zumindest momentan ist es diesbezüglich recht ruhig. Weiterhin erhalten die beiden außerdem die Unterstützung des fundacionsinternen Kindergartens und der Hausaufgabenbetreuung. Wie den Beneficiarios aller Projekte der Fundacion haben sie außerdem Zugang zu kostenlosen medizinischen Behandlung und einem kostengünstigen Mittagstisch.

Neben der Arbeit im Projekt stand das zweite Halbjahr außerdem im Zeichen des Reisens. Als Volontäre haben wir Anspruch auf 21 Urlaubstage. Mit dem Besuch der Eltern meiner Mitvolontäre wurden diese auch ordentlich ausgenutzt. Nach 7 Monaten Arbeiten war es wirklich schön, auch mal Urlaub zu machen und ein bisschen rum zu kommen. Doch so erlebnissreich das Reisen auch war, stets war es mir eine Freude in meine so vertraute Andenstadt zurückzukommen.

Nun wird aber auch dies bald vorbei sein. In ziemlich genau 2 Wochen sitze ich im Flieger zurück nach Deutschland. Mein Jahr als Volontärin hier in der Fundacion Arco Iris ging wirklich super schnell vorbei und der Abschied fällt mir alles andere als leicht. Gibt es doch so viele Menschen die man liebgewonnen hat. Und überhaupt ist es schwierig diese Lebensform zurückzulassen, die man hier ein Jahr leben durfte. Auf einmal wird alles so wertvoll, die Zeit so knapp und dabei muss doch noch so viel erledigt werden! Auch innerhalb der Volontärsgruppe merkt man, dass sich auf allen Seiten ein bisschen Druck, Angst und Trauer ausbereitet. (Bereits gestern haben wir schon unsere zwei mexikanischen Volontäre verabschiedet, was kein Leichtes und ziemlich emotional war.)

Eigentlich ist es ja nicht einmal so, dass man gar nicht mehr zurück nach Deutschland will, natürlich hat man dort Familie und Freunde die auf einen warten. Aber ist es doch viel mehr das Gefühl hier nicht weg zu wollen. Rein rational betrachtet weiß ich, dass es mehr als gut ist nun zurückzukehren. Die Arbeit als Volontärin ist ja streng genommen auch nur mit einer Hilfskraft zu vergleichen, gerne würde ich mich spezialisieren, professionel Arbeiten und in meinem persönlichen Werdegang vorankommen. Immer nur auf der Stelle zu treten wäre wohl auch nicht gut.
Aber aus emotionaler Sicht ist dieses Zurückkommen so unendlich viel schwerer. So lässt man doch ein Jahr seines Lebens hinter sich. Fragen wie „Habe ich alles gegeben?“, „Wann sehen wir uns wieder – wenn überhaupt?“, „Wie wird es wohl in Deutschland sein?“ schwieren in meinem Kopf herum.

Und tatsächlich ist da wirklich etwas Angst vor Deutschland. Vielleicht klingt das überspitzt, aber obwohl ich die längste Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht habe, kommen mir schon nach 1 Jahr Aufenthalt in einem anderen Land Kultur und Lebensart ganz fremd vor. Ein Zeichen dafür, dass wir Menschen sehr gute Gewöhnungstiere sind.

Schon jetzt merke ich, wie man sich viel zu sehr an die Armut, Ausnutzung und Korruption gewöhnt hat. Natürlich ist das gut, um hier und in dem System zu überleben, aber man sollte es doch niemals als Normalfall betrachten. Manchmal sehe ich Videos, Bilder oder lese Artikel und stoße auf scheinbar selbstverständliche Dinge, die früher so normal waren und ich hier schon fast vergessen habe.

Im August werden wir 17 Arco Iris Freiwillige ein Rückkehrerseminar haben, welches übrigens auch in den Weltwärts-Richtlinien so vorgeschrieben ist. Ich glaube, dass mir und meinen restlichen Mitstreitern dieses sehr gut tun wird. Meistens ist es ja so, dass man Dinge im Nachhinein mit Abstand und der nötigen Außensicht sehr viel besser bewerten kann. Mein momentanes Abschlussfazit muss ich euch also für den Moment noch vorenthalten; es fehlt noch an Reife und der nötigen Außensicht. Aber in einem letzten Eintrag – dann in Deutschland -werde ich euch aufjedenfall davon berichten.

Herzliche Grüße aus dem winterlichen und kalten La Paz,

Carina

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Winterliches La Paz / El Alto
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Gruppenbild mit einigen Ex-Beneficiari@s
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Illimani, 2. höchster Berg Boliviens und Wahrzeichen von La Paz
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Die akutelle Wohnsituation der Familie meines Patenkindes – 2 Betten für 6 Personen
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Und noch das „Badezimmer“ …